Freitag, 13. März 2009

Zur Kritik der Modularisierung und des Credit-Point-Systems - Ein Diskussionsbeitrag

Der sogenannte Bologna-Prozess der Hochschulreform ist in vollem Gange. Mittlerweile wurden sämtliche Studiengänge modularisiert und die meisten davon auch auf die neuen Abschlüsse Bachelor und Master umgestellt. Wer "zu spät geboren" wurde oder das Abi auf dem zweiten Bildungsweg gemacht hat und deshalb erst jetzt ein Studium beginnt, hat zunächst einmal gar keine andere Möglichkeit, als sich mit dem neuen System zu arrangieren.

Dass die neuen Studiengänge Realität sind, ist jedoch kein Grund, nicht kritisch zu fragen, was diese an Veränderung bedeuten. Der folgende Beitrag beschränkt sich im Wesentlichen auf eine kritische Analyse der Modularisierung und insbesondere des Systems der Credit Points bzw. Leistungspunkte. Diese Elemente sind Bestandteil sowohl des Bachelors als auch des Masters sowie der noch nicht auf die neuen Abschlüsse umgestellten modularisierten Lehramtsstudiengänge. Darüber hinaus wäre eine Analyse des Systems der zwei- bzw. dreistufigen Studienabschlüsse zu leisten.

Anliegen der im Folgenden geäußerten Kritik ist nicht die Idealisierung der alten Studiengänge, sondern eine nüchterne Betrachtung dessen, wie sich Studium unter den Bedingungen von Modularisierung und Leistungspunkten verändert.


Gestiegene Arbeitsbelastung

Ein Beispiel: Regelstudienzeit im alten Studiengang Diplom-Pädagogik waren neun Semester. Dabei mussten im Grundstudium neun Scheine, im Hauptstudium acht erworben werden. Dazu kam ein vierwöchiges Pflichtpraktikum im Grundstudium sowie zwei vier- bzw. achtwöchige Praktika im Hauptstudium. Selbstverständlich waren mit den Scheinen noch nicht alle prüfungsrelevanten Bereiche abgedeckt und der Besuch weiterer Lehrveranstaltungen nötig bzw. sogar in der Studienordnung festgeschrieben. Darum brauchte man sich jedoch nicht weiter zu kümmern, gab es doch keine Stelle, die kontrollierte, ob man diese Seminare tatsächlich besucht oder sich dafür entschieden hatte, sich die Prüfungsliteratur selbständig anzueignen und stattdessen Seminare zu besuchen, die nicht im engeren Sinne prüfungsrelevant waren, eineN aber stärker interessierten.

Wer BA Erziehungswissenschaften studiert, dem/der werden dagegen innerhalb von sechs Semestern 84 Semesterwochenstunden (plus zwei jeweils vierwöchige Praktika) aufgebrummt, was auf durchschnittlich 14 SWS hinausläuft. Mit diesen 14 Stunden ist es aber noch nicht getan, denn wie in anderen BA's wird auch hier der erfolgreiche Studienfortschritt durch die Vergabe von Leistungspunkten nach dem European Credit Transfer System (ECTS) gemessen. Diese Leistungspunkte sind als "Maß für den Arbeitsaufwand, der für den Studenten mit der Einbringung ... verbunden ist" (vgl. § 11 der Prüfungsordnung des BA Erziehungswissenschaften) konzipiert. Das bedeutet, dass jede Lehrveranstaltung und die dafür nötige Vor- und Nachbereitungszeit sowie die in diesem Zusammenhang geforderte Prüfungsleistung in einen durchschnittlich dafür notwendigen Arbeitsaufwand umgerechnet wird.

Für den sechssemestrigen Bachelor Erziehungswissenschaft sind dabei insgesamt 180 Credit Points bzw. (umgerechnet in Arbeitsstunden, wobei ein CP dreißig Stunden entspricht) 5400 Stunden zu erbringen. Das macht aufs Semester gerechnet 900 Stunden, was bei 26 Wochen pro Semester bedeutet, dass Bachelor-Studierenden eine durchschnittliche Wochenstudienzeit von 34,6 h zugemutet wird (in dieser Rechnung außen vor gelassen sind die zweimal vier Wochen Pflichtpraktikum, die die Wochenstudienzeit entsprechend erhöhen, für die aber keine Credit Points vergeben werden). Wenn man von einer normalen Vollzeitwoche mit 40 h ausgeht, würde das bedeuten, dass Bachelor-Studierende etwas mehr als 5 Stunden die Woche Zeit zum Jobben haben. Dass das bei den für Studie-Jobs üblichen Stundenlöhnen (insbesondere den lachhaften HiWi-Löhnen) vorne und hinten nicht für ein anständiges Leben reicht (auch wenn man noch Bafög oder Kindergeld bekommen sollte), versteht sich von selbst. Ergo wurde bei der Einführung des Bachelors entweder darauf gesetzt, dass Studierende ruhig mehr schuften können, als durchschnittliche ArbeitnehmerInnen oder eben ganz selbstverständlich von ihren Eltern mitgetragen werden müssen. Dass diese Voraussetzung zumindest bisher nicht alle Studierenden mitgebracht haben, dürfte bekannt sein. Wen solche Bedingungen vor allem von einem Studium abschrecken, ist ebenfalls leicht ersichtlich: diejenigen potentiellen Studierenden, die schon bisher erschwerte Voraussetzungen hatten, die Selektionshürden des deutschen Bildungssystems erfolgreich zu bewältigen. Es sei hier nur nebenbei erwähnt, dass seit der Einführung allgemeiner Studiengebühren in Bayern zum Sommersemester 2007 noch einmal 1000 Euro mehr pro Studienjahr aufzutreiben sind.


Das Märchen von der höheren Mobilität dank ECTS

Ein zentraler Bestandteil des Bachelors ist die bereits erwähnte Einführung des ECTS. Begründet wurde diese damit, dass so eine höhere Mobilität von Studierenden ermöglicht werde, stellen Credit Points doch so etwas wie eine Bildungswährung dar. Faktisch ist es jedoch zumindest heute noch so, dass die Studiengänge verschiedener Unis innerhalb und außerhalb Deutschlands trotz Umstellung auf Credit Points so unterschiedlich sind, dass Leistungen kaum angerechnet werden. Musste früher bei Hochschulwechsel der Nachweis erbracht werden, dass die in den Scheinen bestätigte Studienleistung mit den Anforderungen der neuen Hochschule vergleichbar ist, so hat sich dieses Problem mit der Modularisierung häufig verschärft. Zwar gilt entsprechend einer Empfehlung der Kultusministerkonferenz auch an anderen Hochschulen in der Regel die Umrechnung: 1 CP entspricht 30 Stunden Workload, die Module sind jedoch von Uni zu Uni kaum vergleichbar und die in einem Modul jeweils geforderte Anzahl an Credit Points variiert.

Nochmal am Beispiel BA Erziehungswissenschaft: Der BA Erziehungswissenschaft in Augsburg schreibt zwei sozialwissenschaftliche Pflichtmodule vor. In Psychologie sind dabei 18 Leistungspunkte, in Soziologie und Politikwissenschaft 26 zu erbringen. Im BA Erziehungswissenschaft an der Uni Tübingen entsprechen diesen sozialwissenschaftlichen Pflichtmodulen die sogenannten Beifächer Psychologie und Soziologie, wobei in beiden Beifächern jeweils zwölf Credit Points zu erwerben sind. Wer also bspw. nach dem 4.Semester von Augsburg nach Tübingen wechseln will, wird u.U. feststellen, dass er zu viel Zeit mit diesen Nebenfächern verschwendet hat und ihm dafür in anderen Modulen Punkte fehlen, die nachgeholt werden müssen. Umgekehrt wird eine Studentin, die nach einigen Semestern von Tübingen nach Augsburg wechseln will feststellen, dass ihre im Beifach Soziologie erworbenen Credit Points bei weitem nicht ausreichen bzw. sie mit Politikwissenschaften hier ein zusätzliches Fach studieren muss.

Dass der Bachelor die Mobilität von Studierenden erleichtert, ist also eher ein schönes Propagandamärchen, was in letzter Zeit sogar von BefürworterInnen des Bologna-Prozesses eingestanden wurde.1 Dies wird in der Regel jedoch mit der noch unzureichenden Umsetzung der Reform betrachtet, also als ein Problem, das sich im Laufe der Zeit und mit ein bisschen gutem Willen in den Griff kriegen lässt. Gänzlich unbetrachtet bleibt dagegen aber häufig, welche qualitative Veränderung die Einführung des ECTS bedeutet.


Pädagogikseminar = ½ Bachelor-Arbeit = 6 CP = 180 Stunden

Dazu wiederum einige Beispiele aus dem BA Erziehungswissenschaft in Augsburg: Für den Besuch einer zweistündigen Vorlesung zur Einführung in die Psychologie mit abschließender 60minütiger Klausur gibt es 4 Leistungspunkte. Damit wird die Vorlesung einem zweistündigen Seminar zur vertiefenden Einführung in die Pädagogik der Kindheit und Jugend, das mit einer kleinen Hausarbeit abgeschlossen wird, gleichgesetzt. Für beides gibt es nämlich vier Punkte. Oder: Ein zweistündiges Seminar zu Grundformen pädagogischen Handelns mit abschließender Hausarbeit entspricht einer halben Bachelor-Arbeit, nämlich sechs Credit Points bzw. 180 Stunden Workload.

Dass in diesem Denken eine halbe Bachelor-Arbeit vorstellbar ist, offenbart den ganzen Unsinn der Vergleichbarkeit bzw. deren Grenze. Vergleichen lässt sich nämlich nur eine Abstraktion, der durchschnittlich geschätzte Workload (der notwendig relativ willkürlich festgelegt werden musste), nicht jedoch die Bachelor-Arbeit mit dem Seminar zu Grundformen pädagogischen Handelns, stellen beide doch ziemlich unterschiedliche Anforderungen und Tätigkeiten dar. Das eine ist eine selbständige wissenschaftliche Arbeit, für die Literatur recherchiert, ggfs. Interviews geführt und ausgewertete werden etc. Das andere besteht vor allem aus dem Zusammenkommen mit anderen Studierenden und einer Lehrperson, Rollenspielen und einer darauf reflektierenden Arbeit.

Mit den Credit Points werden also qualitativ völlig unterschiedliche Dinge gleichgesetzt. Damit liegt eine Analogie zum Geld nahe. Auch dieses verhält sich gleichgültig gegenüber dem Konkret-Sinnlichen: Ein Coffee to go im Pow Wow kostet 2,70 Euro und ein Bier im Lamm dasselbe. Dass beides nicht dasselbe ist, ist im Geld nicht mehr zu sehen und diesem auch egal. Genauso ist in den Credit Points nicht mehr ersichtlich, worauf sie beruhen. Workload ist Workload.

Nun stellte zweifellos auch das alte System der Scheine eine gewisse Vergleichbarkeit des Studiums sicher. Schließlich waren auch die alten Studiengänge darauf ausgerichtet, künftige (wissenschaftliche) Arbeitskräfte zu produzieren. Allerdings war das Ganze noch nicht derart durchkalkuliert. Vorgeschrieben war relativ allgemein, dass in einem bestimmten Bereich, beispielsweise in der sogenannten Bezugsdisziplin Soziologie, ein Proseminarschein zu erbringen war und dass dieser aus dem Bereich Sozialstruktur, Familiensoziologie, Bildungssoziologie oder Abweichendes Verhalten zu stammen hatte. Nun konnte man nach dem Prinzip des geringstmöglichen Aufwands verfahren und eine Standardhausarbeit zu einem der üblichen Themen abliefern, oder ein Interesse entwickeln, sich genauer mit einem Thema auseinander zu setzen und eine längere Arbeit zu schreiben, die entsprechend mehr Arbeits- und Zeitaufwand bedeutete. Dazu musste man nur klären, ob der/die DozentIn damit einverstanden ist. Da in vier Semestern Grund- bzw. Hauptstudium insgesamt nur neun bzw. acht Scheine zu erbringen waren, konnte man durchaus mal mehr Zeit für eine Arbeit verwenden. Mit dem im Bachelor vorausgesetztem Workload ist so etwas kaum mehr drin.

Der Vergleich mit den alten Scheinen und Geld zeigt, dass Vergleichbarkeit und Abstraktion keine neuen, nur dem Credit-Point-System eigenen Phänomene sind. Vielmehr gehören diese zur Grundstruktur kapitalistischer Vergesellschaftung. Allerdings macht die Gegenüberstellung von Scheinen und Leistungspunkten auch deutlich, dass die rationale Kalkulation im Hochschulbereich mit der Einführung des ECTS eine neue Qualität erfährt und unmittelbarer denn je zum Ideal an sich wird. Bot das alte System noch relativ große Spielräume für individuelle Entscheidungen, so sind diese im neuen auf ein Minimum zusammen geschrumpft. Dies lässt sich auch daran feststellen, dass mit der Umstellung auf den Bachelor das Angebot der Lehrveranstaltungen immer gleichförmiger wird: Jedes Wintersemester wird Einführung A, B und C für das erste Studiensemester, jedes Sommersemester Seminar D, E und F für das zweite Studiensemester angeboten und ist man dann im dritten Semester werden einem dieselben Sachen präsentiert, die der Vorjahrgang zur Auswahl hatte. "Exotische" Seminare, die stets nur einen kleinen Kreis angesprochen haben, finden sich deutlich seltener, da sie als in den Modulhandbüchern nicht vorgesehen interpretiert werden.2


Fazit

Nicht nur, dass das Leistungspunktesystem zumindest aktuell die doch so erwünschte Mobilität der Studierenden eher behindert als unterstützt. Die rationale Vergleichbarkeit, für die das ECTS stehen soll, entlarvt sich bei genauerer Betrachtung als Schein von Rationalität - zumindest soweit mit Rationalität noch etwas anderes gemeint sein soll als Kalkulation. Verglichen werden kann nur so etwas wie der durchschnittliche Workload, wobei von den Inhalten und Qualitäten abstrahiert werden muss. Das aber ist Rationalität ohne Vernunft - nun eben auch in einem neuen Maße an den Hochschulen.


1vgl. den Projektbericht der Hochschul Informations System GmbH vom April 2007 zu Internationaler Mobilität im Studium und vom Februar 2008 zu Mobilität und Mobilitätshindernissen in gestuften Studiengängen innerhalb Deutschlands

2Verantwortung hierfür tragen diejenigen, die mit der Auslegung der Modulhandbücher beschäftigt sind. Obwohl die Formulierungen der Modulhandbücher in der Regel sehr allgemein und vage sind, wird häufig aus deren bloßer Existenz geschlossen, dass Freiheiten bei der Themenfindung der Seminare nun endgültig der Vergangenheit angehören und gleichzeitig über das "Korsett Bachelor" geschimpft, statt auf die Idee zu kommen, dass die in den Modulen enthaltenen Formeln momentan noch ausgelegt werden müssen, jetzt also der Zeitpunkt wäre, an dem man sich durch entsprechend großzügige Auslegung auch im neuen System gewisse Handlungsspielräume erhalten könnte.

 
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